Verschiebungen

Die MUSIKTHEATERTAGE WIEN 2025 widmen sich dieses Jahr den unmerklichen Verschiebungen und subtilen Brüchen unserer sozialen und kulturellen Normen. Das Festival zeigt, wie kleine Verschiebungen und Risse Großes bewegen können. In der Eröffnungsproduktion THE RISE etwa verschieben sich die Ebenen, wenn ein Gehörloser dem Publikum in Gebärdensprache die Geschichte erzählt und damit auch die Norm der Rezeption. Die Radau-Operette STADT DER TEUFEL wiederum hinterfragt Machtstrukturen in Kulturbetrieben. Während sich in VENUS IM PELZ das Machtverhältnis zwischen Frau und Mann verschiebt. In SPLICE schieben sich gleich 12 Stimmen in einen Körper. THE RESILIENCE OF SISYPHOS untersucht mit dem Publikum in einer Escape-Room-Experience, wie sich die Vorzeichen der Klimakatastrophe verschieben. Die musikalische Reise LET ME PLAY THE LION TOO spielt mit den Identitätskrisen der Musiklegende Liberace. BEING KARL DIETER zerlegt die Musik in ihre Einzelteile. In der Zacherlfabrik bleibt von Überflüssigem und Altlasten am Ende nur PULVER übrig. Und gegen Festival-Ende verwandelt DICHTES HOLZ den Gedenkwald in Aspern zu einem Ort des Zuhörens, an dem Vergangenes niemals verstummt.

Foto: Bea Borgers

Mit diesem reichhaltigen Programm nehmen die MUSIKTHEATERTAGE WIEN das Publikum vom 17. bis 27. September mit auf eine abwechslungsreiche Klangreise und entführt es dabei in das Odeon Theater, das Theaters am Werk, den Reaktor, in die Zacherlfabrik, das WUK, die Alte WU Wien, das MuTh sowie in den Gedenkwald Aspern.

Unerhörte Welten und ein Tanz mit dem Teufel

Zur Eröffnung der MUSIKTHEATERTAGE WIEN erschafft das das renommierte ICTUS Ensemble aus Belgien mit THE RISE eine neue Welt: Der junge gehörlose Performer Ruben Grandits führt das Publikum durch den Schlund des Vulkans Averno, den Ort des Übergangs zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. Und obwohl Grandits gehörlos ist, ist er der einzige, der dem Publikum die Geschichte vermitteln kann.

Die Berliner Musiktheater-Gruppe glanz&krawall versetzt Wien mit ihrer Radau-Operette in höllischen Aufruhr: In STADT DER TEUFEL prallen Suppès Operette und Bulgakows Gesellschaftssatire aufeinander. glanz&krawall schicken Satan Voland, Margarita und eine Schar diabolischer Figuren durch Ballsaal, Stadtfest und Theaterraum. Zwischen Revolte in der Hölle und Hedonismus und Karrierewahn auf Erden geraten Machtverhältnisse ins Wanken. Auch der Kulturbetrieb bekommt sein Fett weg.

Gespaltene Persönlichkeiten

Pianist Marino Formenti und die Kompanie errortheater laden in LET ME PLAY THE LION TOO zur Séance und beschwören in einer musiktheatralen Zeremonie den Geist des legendären Starpianisten Liberace, um das Publikum in Kunst und Abgrund eskapistischer Unterhaltung einzuführen. Es entsteht eine Komposition des Scheiterns. Das ist die große Macht des Showbiz: Die gebrochene Identität des Bühnenvirtuosen wird in Spaß und Magie verwandelt. Die Quellen der künstlerischen Manipulationen sind die gespaltene Identität auf und hinter der Bühne.

Foto: Peter van Heesen

SPLICE verschweißt zwei Performances über das “Ich”. NOCTURNES von Thomas Cornelius Desi ist inspiriert von der Idee einer multiplen Persönlichkeit. Für die Sopranistin Manami Okazaki eine Herausforderung, 12 verschiedene Personen zu interpretieren. Im zweiten Teil des Abends, ELEKTRONISCHE ARCHETYPEN, werden die von C.G. Jung entwickelten Archetypen in der Performance von Gilbert Handler als elektroakustische Allegorien mit einem Lautsprecherorchester über kollektive Aspekte von Persönlichkeit hörbar.

Fluchtraum und Wahrnehmungsspiele

In den Räumen der ehemaligen WU Wien setzt THE RESILIENCE OF SISYPHOS auf ein interaktives, immersives und gamifiziertes Musiktheater-Format, das Elemente aus Performance, Installation und (Musik-)Theater mit einer Escape-the-Room-Experience vereint. Versucht wird nicht weniger als die Rettung der Welt: Das Publikum wird Teil der Crew an Bord der Raumstation SISYPHOS und navigiert gemeinsam durch fünf Klangräume. Entwickelt mit Wiener Aktivist:innen eröffnet das Format Räume für kollektive Zukunftsfantasien.

Was passiert, wenn die Analyse selbst zur Kunst wird? In BEING KARL DIETERverwandelt Thomas Wally gemeinsam mit Studio Dan die musikalische Werkschau in ein musiktheatrales Kopfkino, das Wahrnehmung, Reflexion und Fiktion unaufhaltsam ineinander überführt.

Walzer im Pelz und pulverisierte Erinnerungen

VENUS IM PELZ ist eine Erkundung des berüchtigten Skandalromans von Leopold Sacher-Masoch. Eine Rauminstallation des Architektenduos RUST verwandelt den einstigen Tanzsaal “Etablissement Gschwandner” (heute “Reaktor”) in ein begehbares Labyrinth lustvoller Fantasien. Hier spielte noch Johann Strauss auf, dessen 250.Geburtstag sich heuer jährt – dementsprechend wird die vom Walzerkönig inspirierte Musik von Thomas Cornelius Desi vom Ballensemble Ortner interpretiert.

Foto: Maximilian Weber

Der “Masoch-ismus” begründet die differenzierte Betrachtung sexueller Deviationen. In dieser Produktion steht allerdings das Hören im Vordergrund: Severin auf der Suche nach der Realisation seiner sexuellen Fantasien macht deutlich, wie das Spiel mit Macht, Unterwerfung und Zustimmung menschliche Beziehungen auf die Probe stellt.

In PULVER  zelebrieren Clara Frühstück und Samuel Schaab eine Polyphonie des Zerfalls: Eine Pianistin und ein Performer treffen in einem wandelbaren Bühnenraum aufeinander, der Dinge zum Verschwinden bringt, zerkleinert und auflöst. Der Umgang mit dem Überflüssigen, den Überbleibseln und Altlasten, dem Unerwünschten, dem Abfall wird zum Ausgangspunkt eines Musiktheaters für Kunststoffreste, Schredder, Plastikkeyboards, Elektronik, ein präpariertes Klavier und Textfragmente.

Erinnerungen verschwinden nicht einfach. Im Gedenkwald Aspern, am östlichen Rand der Seestadt, erinnern 65.000 Bäume an ebenso viele ermordete jüdische Wiener:innen in der NS-Zeit. Musikalisch und choreografisch erschließt DICHTES HOLZ ein Gelände zwischen Lichtung, Wald, Teich und Wiese, durchzogen von historischen Schichten und alltäglichen Bewegungen. Georg Blaschke und Matthias Kranebitter gestalten gemeinsam mit dem Black Page Orchestra ein Großraumtheater inmitten dieser Landschaft. 

Musikalische Begegnungen

In frei zugänglichen Afterhour-Sessions laden die MUSIKTHEATERTAGE WIEN mit dem CLUB MOSAIK Künstler:innen des Festivals und der zeitgenössischen Musik-Szene in Wien ein, Neues, Überraschendes oder Unerwartetes zu spielen. Eine gute Gelegenheit für Publikum und Künstler:innen den Festival-Tag informell ausklingen zu lassen.